„Das Ziel sollte eine kontinuierliche psychoonkologische Begleitung sein – daran mangelt es“

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Die Psychotherapeutinnen und Psychoonkologinnen Christa Diegelmann und Margarete Isermann waren an der Entwicklung der „Living Well“-App beteiligt. Sie sind Leiterinnen des von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten „Curriculum Psychoonkologie“, Buchautorinnen und Referentinnen. Gemeinsam leiten sie das „ID Institut für Innovative Gesundheitskonzepte“ in Kassel, das sich für die Entwicklung und Förderung ressourcenorientierter Ansätze engagiert.

Welche Bedeutung spielt die mentale Gesundheit in der Krebstherapie und warum sollte sie bei der Versorgung von Krebspatientinnen berücksichtigt werden?

Margarete Isermann: Die psychische und physische Gesundheit eines Menschen stehen in Wechselwirkung zueinander. Somit können psychische Belastungen starke Auswirkungen auf den medizinischen Krankheitsverlauf haben. Das ist ein grundsätzliches Thema, zum Beispiel auch bei chronischen Herzerkrankungen. Die Besonderheit bei einer Krebserkrankung ist, dass die Diagnose als Lebensbedrohung wahrgenommen wird. Es entstehen massive, existenzielle Ängste. Oft löst bereits die Diagnose ein Trauma aus. Der Stresslevel ist so hoch, dass das Gehirn regelrecht blockiert. Unsere Aufgabe ist es, die Patientinnen wieder in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Ressourcen zur Krankheitsbewältigung zu nutzen.

Wie hoch ist der Bedarf an psychoonkologischer Unterstützung? 

Margarete Isermann: Hoher Stress und große psychische Belastungen sind normal bei Krebserkrankungen. Sie führen bei rund einem Drittel der Menschen, die an Krebs erkranken, zu psychologischen Symptomen, die einer Behandlung bedürfen. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, es sind keineswegs vor allem psychisch labile Menschen betroffen. Vielmehr ist der Stress eine normale Reaktion auf eine Extrembelastungssituation. Und dennoch scheuen sich viele Patientinnen vor einer Psychotherapie, weil psychische Erkrankungen immer noch mit einem Stigma behaftet sind.

Welche Rolle spielt die psychische Gesundheit in der Krebstherapie heute?

Christa Diegelmann: In den letzten zehn Jahren hat sich sehr viel bewegt. Neben der Entwicklung von Therapiestandards, gezielteren Therapiebausteinen und eines Weiterbildungscurriculums sind psychoonkologische Versorgungsstrukturen in Deutschland entstanden. In den zertifizierten Krebszentren zum Beispiel muss den Patientinnen eine psychoonkologische Unterstützung angeboten werden. Bei vielen Krebserkrankungen ist jedoch die Zeit im Krankenhaus und somit auch die dortige psychoonkologische Begleitung sehr kurz bemessen. Und im ambulanten Bereich fehlen oft die psychoonkologischen Strukturen und vor allem die Fachkräfte. Viele Patientinnen sind daher nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zunächst auf sich allein gestellt. Das Ziel sollte aber eine kontinuierliche psychoonkologische Begleitung sein und daran mangelt es.

Wann sollte eine psychoonkologische Therapie beginnen? 

Christa Diegelmann: Eine psychoonkologische Unterstützung sollte frühzeitig beginnen, bestenfalls direkt nach der Diagnose. Und sie sollte die Patientinnen durch den langen Prozess der Krebsbehandlung begleiten. Es ist wichtig, den Stress und die Belastung frühzeitig nach unten zu regulieren, Ängste zu nehmen und vor allem, dass die Patientinnen die eigenen Ressourcen erkennen. Die Erfahrung zeigt aber, dass im Krankenhaus kaum Zeit für psychoonkologische Gespräche bleibt und die Patientinnen aufgrund der vielen medizinischen Behandlungen kaum aufnahmebereit sind. Viele Krebspatientinnen befinden sich nach der Diagnose und während der Krankenhausbehandlungen wie in einem psychischen „Tunnel“. Ihnen wird ihre Situation erst während der Chemo- oder Strahlentherapie bzw. später in der Anschlussheilbehandlung bewusst. Oft fallen sie dann in ein psychisches Loch. Eine kontinuierliche Unterstützung ist daher wichtig – insbesondere beim Übergang von der stationären zur ambulanten Behandlung.

Welchen Ansatz sollte eine psychoonkologische Therapie verfolgen? 

Christa Diegelmann: Patientinnen mit einer Krebsdiagnose befinden sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Eine Therapie sollte die Patientinnen dazu befähigen, diese Herausforderung zu bewältigen. Daher sollte sich die Therapie nicht allein auf die Probleme und Belastungen konzentrieren, sondern vielmehr Problemlösungen im Blick haben. Mit einem „Denk positiv“-Ansatz hat dies nichts zu tun. Es geht vielmehr darum, die Patientinnen zu befähigen, alle ihre Ressourcen zum Krankheitsmanagement zu nutzen. Ziel ist es, die individuelle psychische Widerstandskraft (Resilienz) zu stärken. Dabei haben die eigenen Ressourcen und die Kräfte der Selbstwirksamkeit eine große Bedeutung. Es geht um eine Perspektivenvielfalt im Umgang mit der Erkrankung.

Wie kann die „Living Well“-App bei der Versorgung von Krebspatientinnen unterstützen? 

Margarete Isermann: In der extremen Belastungssituation nach der Diagnose, bei der großen Anzahl an medizinischen Behandlungen im Krankenhaus sowie während der Chemo- und Strahlentherapie schafft eine mobile App ein niedrigschwelliges Angebot, auf das Patientinnen orts- und zeitungebunden – je nach ihrem persönlichen Bedarf und Zustand – zugreifen können. Die App auf einem mobilen Endgerät ermöglicht, dass die Therapie zum ständigen Begleiter wird. Insbesondere beim Übergang zur ambulanten Behandlung kann die „Living Well“-App eine Versorgungslücke vorübergehend schließen und einen Zugang zu einem psychoonkologischen Therapieprogramm schaffen. Und auch später ist sie aufgrund ihrer Niedrigschwelligkeit eine gute Ergänzung zur ambulanten Psychotherapie.

Was sind aus Ihrer Sicht wichtige Element der „Living Well“-App? 

Christa Diegelmann: Die „Living Well“-App unterscheidet sich von anderen Angeboten aufgrund ihres therapeutischen und ressourcenorientierten Ansatzes. Die Basis der App bildet der evidenzbasierte Ansatz der kognitiven Verhaltenstherapie. Die App nutzt diesen Standard, geht aber darüber hinaus und umfasst vielfältige Elemente zur Krankheitsverarbeitung und -bewältigung sowie zur Stärkung der persönlichen Ressourcen. Wichtige Elemente sind zum Beispiel Module zur Psycho-Edukation, um die Erkrankung zu verstehen, und Übungen zum Umgang mit Ängsten und Stressmanagement, die man im Alltag einfach umsetzen kann.

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